Mangelernährung in Deutschland: unbeachtet, unbehandelt, gefährlich und teuer

Mangelernährung – damit verbinden viele Menschen Zustände in Entwicklungsländern. Tatsächlich aber ist Mangelernährung auch in Deutschland weit verbreitet. Jede vierte bis fünfte Person, die hierzulande in eine Klinik aufgenommen wird, ist mangelernährt [1]. Meist sind alte Menschen, Krebserkrankte oder Patientinnen/Patienten mit bestimmten gastroenterologischen Erkrankungen betroffen. Mangelernährung wirkt sich negativ auf die Prognose einer Erkrankung aus, erhöht Komplikationsraten, Liegezeiten und in der Konsequenz auch die Kosten. Dennoch werden in Deutschland Patienteninnen/Patienten bei Krankenhausaufnahme weder systematisch auf das Vorliegen einer Mangelernährung untersucht, noch sind in Kliniken standardmäßig Ernährungsteams verfügbar. Schlimmer noch: Das Essen in Kliniken verschärft das Problem zusätzlich. Expertinnen/Experten der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) sprechen angesichts der seit Langem unbeachteten Zustände von einem Skandal – und fordern endlich wirksame Maßnahmen.

Die Ursachen für Mangelernährung sind vielfältig

Sehr alte oder schwer kranke Menschen leiden häufig unter Appetitlosigkeit. Auch degenerative Erkrankungen sind ein Grund für unzureichende oder einseitige Nahrungsaufnahme. In Senioreneinrichtungen fehlt meist das Personal, um kognitiv oder körperlich eingeschränkte Menschen beim Essen zu unterstützen. „Werden diese Betroffenen mit einer Erkrankung in eine Klinik eingeliefert, so wird die Mangelernährung hierzulande nicht etwa regelhaft als wichtiger Faktor für die Prognose mitbehandelt – sondern sie bleibt oft unbeachtet und wird durch das Essensangebot und die Abläufe in den Kliniken noch verschärft“, sagt Priv.-Doz. Dr. med. Birgit Terjung, Beirätin der DGVS und Chefärztin der Inneren Medizin/Gastroenterologie der GFO Kliniken Bonn. Klinikessen ist meist kostengünstig, keimarm und wenig schmackhaft – und wird von vielen Patientinnen/Patienten verschmäht. Zudem fehlt auch in Kliniken Personal, um hilfsbedürftige Patienten bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen. Dabei hat die Mangelernährung leidvolle und teure Folgen: Betroffene haben ein höheres Risiko für Komplikationen wie Infektionen oder Druckgeschwüre. Dadurch verlängert sich die Klinik-Verweildauer Studien zufolge um 2,4 bis hin zu 7,2 Tagen. Auch die Wiedereinweisungsrate liegt höher. Die Folge: höhere Kosten pro Patient [2].

Ernährungstherapie kann auf einfache und kostengünstige Weise Leben retten, Leid reduzieren und immense Kosten einsparen

„Maßnahmen, um Mangelernährung zu vermeiden und zu behandeln – etwa durch hochwertigeres und auf die Bedürfnisse der Betroffenen angepasstes Klinikessen sowie geschultes Personal werden im DRG-System nicht angemessen vergütet und daher in Kliniken meist eingespart“, sagt Professor Dr. med. Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik II am Helios Klinikum Krefeld und DGVS-Kongresspräsident der Viszeralmedizin 2022 - die als gemeinsame Jahrestagung mit Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) vom 12. bis zum 17. September 2022 in Hamburg stattfindet. „Aber: Das Personal und die Kosten, die man an dieser Stelle spart, ziehen letztlich höhere Kosten durch Komplikationen und längere Behandlung nach sich – eine absurde und untragbare Situation.“

Experten fordern deshalb konkrete Maßnahmen:

  • Strukturen zur regelhaften Erfassung des Ernährungsstatus von Patientinnen/Patienten sollten in allen Kliniken Standard werden. Orientierung kann dabei das sogenannte „Krefelder Modell“ geben, bei dem die Sensibilisierung und Schulung von Mitarbeitenden (Bottom-up-Strategie) mit verpflichtenden Dienstanweisungen (Top-Down-Strategie) kombiniert werden [3].
  • Es braucht eine breitere Verfügbarkeit von ernährungsmedizinisch geschultem Personal. Dem 14. DGE-Ernährungsbericht (2018) zufolge verfügen nur zehn Prozent der deutschen Kliniken und 30 Prozent der Pflegeheime über eine auf Station verfügbare Diätassistenz, in anderen teilnehmenden Ländern Europas waren es 63 beziehungsweise 86 Prozent. Ein Ernährungsteam oder eine Ansprechperson für Ernährung gab es in 58 Prozent der Kliniken und 45 Prozent der teilnehmenden Wohnbereiche in Pflegeheimen in Deutschland, in Europa waren es 82 beziehungsweise 71 Prozent.
  • Die Vermeidung und Behandlung von Mangelernährung – unter anderem durch hochwertiges Klinikessen und ernährungsmedizinisch geschultes Personal – muss im Vergütungssystem des Gesundheitssystems endlich angemessen berücksichtigt werden.

„Es ist aktuell in der Gesundheitspolitik noch nicht klar, dass Ernährungstherapie auf einfache und kostengünstige Weise Leben retten, Leid reduzieren und immense Kosten im Gesundheitswesen einsparen könnte“, so Frieling. Terjung ergänzt: „Fachgesellschaften weisen seit Jahren auf die Problematik hin, die sich durch das unbeachtete und unbehandelte Problem der Mangelernährung ergibt – hier braucht es jetzt endlich Maßnahmen. Andere europäische Länder sind uns weit voraus.“ Weitere Informationen unter Pressekonferenz und Pressemitteilungen | Viszeralmedizin 2022

  1. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (2019) 14. DGE-Ernährungsbericht –Kapitel 2. Bonn https://www.dge.de/14-dge-eb/vvoe/kap2 
  2.  Khalatbari-Soltani S, Marques-Vidal P (2015) The economic cost of hospital malnutrition in Europe; a narrative review. Clin Nutr ESPEN 10: e89-e94
  3.  Frieling T, Kalde S, Dorka C, Heise J (2013) Optimierung des Screenings auf Mangelernährung im Krankenhaus durch „Bottum-up“- und „Top-down“-Strategien - das Krefelder Projekt. Akt. Ernährungsmed 38: 296-301