Novartis Pharma: Diagnose von erblichen Netzhautdystrophien mittels Gentest früher sicherstellen – Gesprächsrunde zwischen Betroffenen und Experten

Anlässlich eines Pressegesprächs während des DOC-Kongresses am 17. Juni 2021 fanden – wie zuvor im Rahmen der CME-zertifizierten Fortbildungsveranstaltung „IRD 2021“ am
12. Juni 2021 – erstmals die wichtigsten Akteure der IRD-Patientenreise und IRD-Betroffene zusammen. Die Experten aus den Bereichen der klinischen Diagnostik, Humangenetik sowie der Therapie der hereditären Netzhautdystrophie („inherited retinal disease“, IRD) waren sich mit der Mutter einer betroffenen Patientin einig, dass eine molekulargenetische Testung entscheidend dafür sein kann, die lange und belastende Reise von IRD-Patienten abzukürzen. Der Gentest kann die Vorhersage ermöglichen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Erkrankung weitervererbt wird, was auch für die Familienplanung der Betroffenen von Bedeutung sein kann. Darüber hinaus kann der Verlauf der Erkrankung besser prognostiziert werden. Möglicherweise eröffnet der Test Patienten auch die Perspektive, mit Voretigen Neparvovec (Luxturna®) als erster zugelassener Gentherapie in der Augenheilkunde behandelt zu werden. Voraussetzung hierfür sind biallelische Mutationen im RPE65-Gen und ausreichend lebensfähige Netzhautzellen. Im Verdachtsfall sollten Augenärzte selbst einen Gentest veranlassen oder die Betroffenen an ein spezialisiertes Zentrum überweisen, um sie vor einer unnötig langen Patientenreise zu bewahren, so der Tenor der Veranstaltung. Die Experten des Pressegesprächs waren sich zudem einig, dass bei Verdacht auf eine IRD eine schnelle und gute Vernetzung des behandelnden Ophthalmologen mit Humangenetikern und Spezialzentren für erbliche Netzhautdystrophien wichtig ist, um eine frühe Diagnose sicherzustellen.

Frühzeitige Diagnose für Patienten von großer Bedeutung

IRD umfassen eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, die sich in verschiedenen Lebensaltern manifestieren können. In Deutschland sind Schätzungen zufolge insgesamt rund 75.000 Menschen betroffen. Die frühzeitige Diagnose kann für sie von großer persönlicher und sozialer Bedeutung sein. Für den Augenarzt kann sie jedoch aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen, ihrer ausgeprägten klinischen und genetischen Heterogenität sowie der oft unspezifischen Symptomatik bei Krankheitsbeginn eine Herausforderung darstellen. Durchschnittlich warten IRD-Patienten in Deutschland 2,5 Jahre bis zu einer gesicherten Erkenntnis über ihre Erkrankung – während die Degeneration in der Retina voranschreitet.

Zu den bis dahin gestellten Fehldiagnosen zählten neben den Augenerkrankungen Amblyopie (funktionale Sehschwäche) und Myopie (Kurzsichtigkeit) auch Spannungskopfschmerzen und sogar psychosomatische Erkrankungen. „Viele Familien haben eine lange und zermürbende Reise hinter sich, bis sie endlich die Diagnose ihres Kindes in der Hand halten. Und einige verzweifeln und geben auf, bevor sie dieses Ziel erreichen“, gab Heike Kremer, Regionalvertretung Hessen der Bundesvereinigung der Eltern blinder und sehbehinderter Kinder e.V., im Rahmen der Presseveranstaltung zu bedenken.

Bei Verdacht auf eine IRD einen Spezialisten hinzuziehen

Bislang wurden als Ursache für IRD-Mutationen mehr als 260 Gene identifiziert. „Verschiedene Mutationen eines spezifischen Gens können dabei unterschiedliche Augenerkrankungen hervorrufen. Umgekehrt kann eine bestimmte Erkrankung durch Mutationen in verschiedenen Genen verursacht werden“, erläuterte Prof. Dr. med. Ulrich Kellner vom Zentrum für seltene Netzhauterkrankungen in Siegburg. Zu den typischen Symptomen der IRD zählen beispielsweise Gesichtsfeldausfälle, Nachtblindheit, unscharfes Sehen, Schwierigkeiten beim Lesen und eine ausgeprägte Lichtempfindlichkeit. „Bei begründetem Verdacht auf eine IRD – oder auch bei Unsicherheit – sollte der Augenarzt den Patienten an ein Spezialzentrum für IRD überweisen, um Differenzialdiagnose und Therapiemöglichkeiten abzuklären“, so U. Kellner. Bestätigt sich der Verdacht auf eine IRD, ist eine molekulargenetische Untersuchung erforderlich, denn nur diese kann mit hoher Wahrscheinlichkeit die Identifizierung der krankheitsauslösenden Mutationen ermöglichen.

Molekulargenetische Diagnostik bei Verdacht auf eine seltene Erkrankung ist eine Kassenleistung

Durch die Verifizierung der klinischen Verdachtsdiagnose können genetische und nicht genetische Vorhersagen über das Wiederholungsrisiko bei Verwandten oder bei eigenen Nachkommen sowie Prognosen über den weiteren Verlauf der Erkrankung. Und obwohl IRD die häufigste Ursache für eine Erblindung bei jungen Menschen sind, liegt das Durchschnittsalter bei genetischer Testung bei 41,6 Jahren. „Eine genetische Diagnostik ist in Zeiten des Next-Generation-Sequencing unkompliziert und ohne größeren Aufwand anhand einer Blutprobe möglich“, erläuterte die Humangenetikerin Dr. med. Teresa Neuhann, Medizinisch Genetisches Zentrum München. T. Neuhann betonte dabei zudem: „Eine sogenannte diagnostische Untersuchung bei Patienten mit Symptomen kann auch der Augenarzt bei einem gesetzlich versicherten Patienten mit einem Überweisungsschein nach Muster 10 veranlassen, ohne dass das Budget belastet wird.“ Als Neuerung müssen seit dem 1.1.2021 auch größere Genpanels im Vorfeld nicht mehr beantragt werden, dadurch wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, das ursächliche Gen mit zu erfassen.

Voretigen Neparvovec: die erste zugelassene Gentherapie in der Augenheilkunde

Die genetische Testung von Patienten mit IRD muss auch deshalb vorangetrieben werden, weil sich eine Vielzahl an Gentherapie-Ansätzen in der Entwicklung befinden. Für erwachsene Patienten und Kinder mit biallelischen Mutationen des RPE65-Gens besteht bereits heute die Möglichkeit der Gentherapie mit dem Medikament Voretigen Neparvovec (Luxturna), das im November 2018 in der Europäischen Union zugelassen wurde. „Neben nachgewiesenen biallelischen RPE65-Mutationen müssen die Patienten noch über ausreichend lebensfähige Netzhautzellen verfügen“, erläuterte PD Dr. med. Philipp Herrmann, Oberarzt und Leiter der Sprechstunde für seltene Netzhauterkrankungen an der Universitätsaugenklinik Bonn. Seit der Zulassung vor zwei Jahren wurden außerhalb der USA bereits über 100 Patienten mit Voretigen Neparvovec behandelt.

Bei der Behandlung mit Voretigen Neparvovec erhalten Patienten in einem operativen Eingriff pro Auge eine Einzeldosis von 1,5 x 1011 Vektorgenomen als Injektion in den subretinalen Raum. Von dort schleusen die apathogenen viralen Vektoren korrekte Kopien des RPE65- Gens in die Zellen des retinalen Pigmentepithels ein. „Diese können das Gen nach der einmaligen Behandlung dauerhaft exprimieren und somit die Umwandlung von all-trans- Retinal in 11-cis-Retinol katalysieren und den Sehzyklus wieder zum Laufen bringen. Die Sehfähigkeit kann durch die Gentherapie teilweise – aber nicht vollständig – wiederhergestellt werden. Ob sich auch die voranschreitende Neurodegeneration der Netzhaut langfristig stoppen lässt, werden die nächsten Jahre zeigen“, so Ph. Herrmann. Da diese Gentherapie nur einer kleinen Patientengruppe zur Verfügung steht, sich das Feld der Gen- und Zelltherapien aber sehr dynamisch entwickelt, betonten alle Experten beim Pressegespräch die Bedeutung des Gentests als „Türöffner“ für zukünftige Behandlungsoptionen.

Quelle: Novartis Pharma GmbH