Schielen stellt weit mehr als eine Gefahr für eine gesunde visuelle Entwicklung dar und ist weitaus schwerwiegender als ein kosmetisches Problem. Die Betroffenen – vor allem Kinder, von denen zwischen 2% und 5% gelegentlich oder konstant schielen – werden in ihrer ganzen Persönlichkeit nachteilig beeinflusst, wie abermals eine große Studie aus den USA eindrücklich belegt. Dabei wurden die in der Datenbank eines Zusammenschlusses von Krankenversicherungen gespeicherten Informationen bei einem wahrhaft riesigen Kollektiv analysiert: Mehr als 12 Millionen Kinder eines Durchschnittsalters von acht Jahren, von denen 352.636 einen Strabismus hatten. Die Autoren von der „University of California“ in Los Angeles untersuchten, in welchem Ausmaß sich die Diagnosen der verschiedenen registrierten Schielformen mit Diagnoseschlüsseln unterschiedlicher psychischer Auffälligkeiten wie Angstzuständen, Depressionen, Suchtkrankheiten, bipolare Störungen und Schizophrenie überschnitten. Es zeigte sich, dass schielende Kinder deutlich häufiger an diesen mentalen Störungen litten. Der Risikofaktor "odds ratio“ (OR) nach statistischer Adjustierung für andere Einflüsse (wie Alter, Geschlecht, Ethnizität, Familieneinkommen, Begleiterkrankungen) für schielende Kinder an einer Angststörung zu leiden, wurde mit 2,01 errechnet. Angstzustände waren also unter Schielern genau doppelt so häufig wie unter nicht schielenden Kindern aus vergleichbarem demografischem und sozialem Hintergrund. Für Schizophrenie betrug dieser Wahrscheinlichkeitsfaktor 1,83 (schielende Kinder waren also um mehr als 80% häufiger schizophren), für bipolare Störungen 1,64 und für Erkrankungen aus dem depressiven Formenkreis 1,61. Lediglich für den Missbrauch Drogen fand sich kein statistisch aussagefähiger Zusammenhang.
Die Studienautoren gingen noch einen Schritt weiter und untersuchten die Assoziation zwischen der Art des Strabismus und der Wahrscheinlichkeit eines mentalen Leidens. Für die Esotropie, die mit 52,2% die häufigste Schielform unter den betroffenen Kindern war, betrug die OR für Angstzustände 1,88, für Depressionen 1,49, für bipolare Störungen 1,51 und für Schizophrenie 1,61. Bei Kindern mit Exotropie war das Risiko einer Angststörung mit einer OR von 2,13 besonders hoch – ähnlich wie für Kinder mit Hypertropie mit OR 2,12. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Zusammenhang zwischen Strabismus im Kindesalter und psychiatrischen Erkrankungen dokumentiert wurde: Eine deutsche Studie hatte vor vier Jahren den jungen Schielern ein um 50% erhöhtes Risiko einer mentalen Problematik zugesprochen.
Die Studie, so betonen drei Experten in einem begleitenden Editorial, macht deutlich, „dass die chirurgische Korrektur von okulären Fehlstellungen mit der Verringerung von Ängsten und Depressionen verbunden ist. Sowohl in den industrialisierten wie in sich entwickelnden Ländern ist möglicherweise diese chirurgische Korrektur nicht von den Krankenversicherungen abgedeckt, da nach wie vor die falsche Auffassung besteht, dass solche Befunde rein ,kosmetisch‘ seien. Viele mentale Erkrankungen beginnen im Kindesalter. Es ist ganz entscheidend, sie zu identifizieren und ihnen, wann immer möglich, bereits in jungem Alter vorzubeugen. Hier nicht rechtzeitig einzugreifen, kann für die Betroffenen lebenslange Konsequenzen haben.
Lee Y et al (2022) Association of strabismus with mood disorders, schizophrenia, and anxiety disorders among children.
JAMA Ophthalmol 140: 373–381
Prakalapakorn SG et al (2022) Association between strabismus and children's mental health. JAMA Ophthalmol 140:381–382